Geschichten

Uli

Uli

Stand Dezember 2001

Ich kann mich noch genau an das Datum erinnern, es war der Tag, an dem ich aus einer bis dahin unbeschwerten Kindheit unsanft herausgerissen wurde. Es war der 21. April 1982. Ich ging wie jeden Tag nach der Schule zur Post und wollte das Postfach meiner Eltern leeren, in der Hoffnung es könnte ja auch mal wieder etwas für mich dabei sein, war es aber nicht. Statt dessen lag dort ein Brief der an meine Mutter gerichtet war, der Absender war das Institut für Humangenetik der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Einige Wochen vorher war ich dort mit meiner Mutter bei einer Untersuchung, deren Zweck ich nicht begriffen habe. Ich werde immer wieder gefragt, warum ich diesen Brief geöffnet habe, da es eigentlich nicht meine Art ist, etwas zu lesen, was nicht für mich bestimmt ist. Ich denke heute, daß ich vielleicht eine Vorahnung gehabt habe, daß da irgend etwas war, das ich nicht wissen durfte. Ich stand also da, im Postamt und las. Dort standen Dinge wie … noch nicht bereit für die Wahrheit … wird sich über das Ausbleiben der Regel wundern … operativer Eingriff … Entfernung der Keimdrüsen … Vaginalplastik … . Es gibt nicht viele Dinge aus meiner Kindheit, an die ich mich so genau erinnern kann, wie an diesen Tag. Ich rannte unter Tränen nach Hause zu meinen Eltern wo ich sie sofort zur Rede stellte. Sie waren schockiert, waren aber nun dazu gezwungen mir die „Wahrheit“ zu erzählen.
Wir saßen am Küchentisch, als ich mit 13 Jahren erfuhr, daß ich niemals eigene Kinder bekommen würde.
Meine größte Sorge zu diesem Zeitpunkt war aber eine andere, was hatte das mit den chirurgischen Eingriffen auf sich? Ich bekam erklärt, daß ich die Keimdrüsen bis nach Abschluß der Pubertät behalten müsse und danach sollten sie entfernt werden. Und dann habe ich noch unter Tränen gefragt, warum ich denn um alles in der Welt eine Scheidenoperation haben soll, wenn ich doch sowieso keine Kinder bekommen kann! An die Antworten und Erklärungsversuche meiner Eltern kann ich mich kaum noch erinnern.

Ein paar Wochen später wurden wir dann wieder zum Arzt bestellt, er versuchte mir alles so gut wie möglich zu erklären, da erfuhr ich dann auch das erste mal von meinen XY-Chromosomen. Ich glaube, daß es für ein Kind in diesem Alter sehr schwer ist, Informationen dieser Art zu begreifen. Meine Unwissenheit hat zum Beispiel dazu geführt, daß ich mich im Teenageralter immer wieder angstvoll im Spiegel anblickte, in der Panik irgend etwas männliches an mir zu entdecken … Bartwuchs zum Beispiel.
Daß mein Körper eigentlich resistent gegen Testosteron ist und ich mich deswegen überhaupt zur Frau entwickelt habe, habe ich sowieso erst vor kurzem wirklich kapiert.

Die Pubertät verbrachte ich, wie wohl viele andere XY-Frauen auch, mit dem Verbergen meines Körpers. Ich ging nicht mehr zum Sport, ich war eine Schwimmerin, mehr recht als schlecht, trotzdem mit Begeisterung bei der Sache, aber Sammelumkleiden waren ein Graus für mich. Ausgerechnet ich war umgeben von Freundinnen, die es liebten in epischer Länge und Breite über ihre Menstruation zu berichten, über die Krämpfe und das geeignete Hygienekonzept (die Frage aller Fragen: Binden oder Tampons). Ich wollte nie lügen, daher schwieg ich, immer in der Angst lebend, eines Tages enttarnt zu werden.

Die eigentlich furchtbarste Zeit für mich begann mit 18, damals wurde ich zu einer Untersuchung mit Vorbereitung auf eine eventuelle Operation in das Klinikum Großhadern in München gebeten. Der Arzt hatte Schwierigkeiten mit der Untersuchung, es war alles viel zu klein und zu eng … ich hörte, wie er eine Sprechstundenhilfe um das „Kinderbesteck“ bat und mir dann ins Gesicht sagte, es wäre alles in Ordnung und ich müsse einfach einen besonders liebevollen Mann finden, günstig wäre auch ein kleiner Penis!!! Heute kann ich darüber lachen, aber es ist ein bitteres Lachen, denn was damals niemand wußte, ich hatte schon einen mißglückten „Versuch“ mit einem offensichtlich nicht so verständnisvollen Mann hinter mir.
Meine Mutter war erleichtert, ist mir doch eine schmerzhafte und nicht ganz ungefährliche Operation erspart geblieben. Und ich … ich begann mich zu isolieren, niemanden mehr an mich heranzulassen und mich mit dem Gedanken abzufinden, niemals zu erfahren wie es ist, von einem Mann berührt zu werden. Viele denken vielleicht, daß dies ein absurder Gedanke war, aber ich habe einfach alles blockiert und einen immer größeren Berg an Angst in mir aufgebaut. Um mich herum entstanden Partnerschaften, sie zerbrachen wieder, Verliebtsein, große Gefühle, ich schaute immer nur zu. Ich litt damals sehr unter meinem Ruf, die Unberührbare zu sein.
Eine von den kleinen Geschichten, von denen wir alle sicher viele erlebt haben: Ich war auf einer Party und wurde furchtbar von so einem Kerl angemacht, er wollte bei mir übernachten … bloß so … genau … als ich ihn in seine Schranken verwiesen habe, ist er wutschnaubend und alkoholisiert zurück auf die Party gegangen und hat lauthals verkündet, ich wäre zu dumm zum ……….. !!! Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und bekam das dann natürlich sofort am nächsten Tag erzählt. Alle wußten es, sie klopften mir sogar auf die Schulter, dafür, daß ich dem Kleinstadtcasanova nicht auf den Leim gegangen bin. Ich schämte mich trotzdem furchtbar und in dieser Zeit gab es wohl nur wenige Nächte, an denen ich mich nicht in den Schlaf geweint habe.

Mit 23 startete ich einen erneuten Versuch, ich erfuhr, daß einer der Ärzte von damals an eine andere Klinik gegangen ist und sich nach meinem Befinden erkundigt hatte. Ich ließ mir einen Termin machen und der Wundermediziner, menschlich ganz weit vorn, hat zumindest das physische Problem sofort erkannt: zu eng, zu kurz … kein Problem. OP zwei Wochen später. Im Komplettpaket enthalten war selbstverständlich auch die Entfernung meines hormonproduzierenden Gewebes.

Von da an begann ein neues Leben für mich. Ich zog um in eine andere Stadt und begann ein Architekturstudium. Ich lernte viele neue Leute kennen und etwa ein Jahr nach meiner Operation hatte ich meine erste Beziehung. Wir haben eine wunderschöne Zeit miteinander verbracht. Und irgendwann habe ich das getan, was ich bis dahin nie für möglich gehalten hätte, ich redete darüber, ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Er hat mich geliebt – so wie ich bin. Das war ein tolles Gefühl. Irgendwann, etwa drei Jahre später habe ich dann diese Beziehung beendet, es hatte im Grunde nichts mit AIS zu tun. Indirekt vielleicht, denn ich wollte einfach noch mehr erleben und meine Jugend irgendwie „nachholen“. Ich verliebte mich unsterblich in einen anderen Mann, es war unglaublich, ich war damals mitten in meiner Diplomarbeit und plötzlich hatte ich nur noch Augen und Ohren für diesen Mann … auf einmal waren da all diese Gefühle. Es wurde dann sehr kompliziert und er hat mich zurückgestoßen. Mein Liebeskummer war unerträglich und trotzdem habe ich es genossen, darin gebadet, denn genau diese Gefühle waren es, die mich zum ersten Mal irgendwie menschlich machten.
Nachdem ich mein Studium beendet hatte, ging ich nach Amerika, um dort zu arbeiten. Ich habe mich gleich noch einmal unsterblich verliebt und dieses Mal war ich sicher, daß es der Richtige ist. War er aber nicht, denn auch er konnte mein überschwengliches Gefühlchaos nicht ertragen und hat mir klargemacht, daß ich nicht die Richtige für Ihn bin. Das hat sehr wehgetan und ich brauchte einige Zeit mich wieder hochzurappeln, schließlich kam zu allem Kummer immer noch die quälende Frage, ob es nicht doch an meiner körperlichen Situation lag.

Das ist jetzt zwei Jahre her und ich bin vor etwa einem halben Jahr nach Berlin gezogen um dort mal wieder ein neues Leben anzufangen. Flucht sagen bösartige Zungen … möglich, aber ich liebe den Neuanfang und sehe positiv in meine Zukunft.

Vor etwa einem Jahr bin ich dann über das Internet auf die Gruppe gestoßen. Seitdem hat sich sehr viel verändert, ich war schon das zweite Mal bei einem Treffen dabei und es ist ein wunderschönes Gefühl, andere Frauen kennenzulernen, die genau wissen was man fühlt. Ich habe gelernt noch offener darüber zu sprechen. Es ist sehr entspannend, mit seinen Freunden darüber reden zu können. Niemand war wirklich schockiert und niemand hat mich bemitleidet und niemand verhält sich mir gegenüber anders als vorher.

Meine Weiblichkeit habe ich in all den Jahren nie in Frage gestellt. Ich sehe aus wie eine Frau, ich fühle wie eine Frau und wollte mein ganzes Leben nichts anderes sein als eine normale, vollständige Frau. Durch die Erfahrungen in der Gruppe lerne ich, mich mit bestimmten Begriffen auseinanderzusetzen. Was ist „normal“? Und was macht eine vollständige Frau aus? Langsam aber sicher begreife ich, daß es für mich keinen Sinn macht, einem Idealbild nachzueifern. Viel wird darüber diskutiert, über die Spannbreite zwischen Mann und Frau und die Gefühle die damit verbunden sind. Das muß wohl jeder für sich selbst entscheiden. Beim letzten Treffen sagte jemand aus der Gruppe zu mir: „Du bist eine Frau, nur eben mit einer kleinen Besonderheit.“ Das gefällt mir, ich denke damit kann ich leben.

ULI