Tascha
Tascha
Stand Dezember 2001
Als ich zur Welt kam, das war in Istanbul, hatte ich zwei Wölbungen in der Leiste. Nach einigen Untersuchungen sagte der türkische Kinderarzt zu meinen Eltern, daß ich eigentlich ein Junge sei und daß ich mich irgendwann mal umoperieren lassen müsse.
Ein großer Schock für meine Eltern. Jahre vergingen, ich hatte immer Schmerzen in der Leiste beim Husten, Lachen und beim Sport. Im Alter von 7 Jahren flog mein Vater mit mir nach Hamburg zu einem befreundeten Arzt. Der schickte uns in die Kinderklinik Altona. Man sagte meinem Vater, das wäre ein doppelseitiger Leistenbruch. Ich wurde operiert. Bei der OP stellte man fest, daß die Wölbungen kein Leistenbruch sondern Gonaden waren. Sie wurden unter die Bauchdecke verlegt.
Zurück in Istanbul, ging für mich das Leben weiter. 1981 zogen wir nach Deutschland um, und in den folgenden Jahren kam ich in die Pubertät.
Alle Mädchen bekamen Schamhaare, ihre Tage, nur ich nicht. Ich wußte nicht weshalb, aber meine Eltern sagten mir, das kommt noch, manche Mädchen entwickeln sich früher, andere später. Meine Brüste wuchsen, nur meine Regel wollte und wollte nicht eintreten. Eines Tages mischte ich rote Wassermalfarbe an und malte mir die Unterhose rot an und prahlte vor meinen Eltern, ich hätte meine Tage bekommen, was meine Eltern sehr schockte. Ich stellte fest, daß etwas nicht stimmte, da meine Eltern sich auf einmal große Sorgen um mich machten. Ich beichtete ihnen, daß es nur Wassermalfarbe war. Daraufhin nahm mich mein Vater mit zum Frauenarzt zu einem Gespräch.
Ich schämte mich so, mit meinem Vater beim Frauenarzt zu sitzen. Der Frauenarzt erklärte mir dann sehr behutsam, was bei mir nicht stimmte. Mir war das alles sehr unangenehm, über Sexualität zu sprechen, in einem Alter von 15 Jahren, mit einem fremden Arzt. Er erklärte mir, daß ich nach Ende der Pubertät ins Krankenhaus müsse, um die Gonaden entfernen zu lassen, daß ich ohne eine weitere OP keinen Sex haben könne, und daß wenn ich kein Sex hätte, eine Prothese tragen müsse und daß ich auch keine eigenen Kinder kriegen könne.
Irgendwie hatte ich das schon immer im Gefühl gehabt. Ich wußte das alles schon viele viele Jahre in meinem tiefsten Inneren. Irgend etwas war da, so ein Gefühl, anders zu sein als andere Mädchen. Nun kam die Bestätigung.
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich unbekümmert gewesen, doch nun änderte sich alles schlagartig für mich. Ich wurde immer verklemmter, ging ungern ins Schwimmbad, zog mich in der Toilette um, damit meine Klassenkameraden mich nicht nackt sahen. Ich fühlte mich schlecht, wenn im Fernsehen Nacktszenen zu sehen waren.
Sex und Sexualität waren für mich absolut tabu. Ich glaube, meine Eltern haben gar nicht gemerkt, daß ich mich in Grund und Boden geschämt habe und mir das sehr unangenehm war, wenn das Thema Sex aufkam.
Im Alter von 18 mußte ich dann in Düsseldorf in die Uniklinik, um mir die Gonaden entfernen zu lassen. Ich wurde gynäkologisch untersucht. Um mich herum standen sieben Ärzte, oder vielleicht waren es auch angehende Ärzte im Studium, die interessiert dem Professor lauschten und mir zwischen die Beine schauten. Die Untersuchungen waren schmerzhaft, und ich wollte nur noch sterben vor Scham. Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich so ausgeliefert und verletzlich wie an diesem Tag. Ich kam mir regelrecht vergewaltigt vor.
Zuhause weinte ich bitterlich, aus Angst vor dem Krankenhaus, der OP und dem, was auf mich zukommen würde. Meine Eltern, die selber nicht recht mit der Situation umzugehen wußten waren ein schwacher Trost.
In der Nacht vor der OP bekam ich durch meine Angst so hohes Fieber, daß der OP-Termin verschoben wurde. Ich war glücklich, nach Hause zu kommen.
Ein halbes Jahr später, ich war inzwischen 19, hieß es die Gonaden müßten raus, da meine Blutwerte nicht in Ordnung wären und die Gonaden bösartig werden könnten. Wieder nach erniedrigenden Untersuchungen ließ ich die OP über mich ergehen. Ich war froh, daß alles vorbei war. Doch die Ärzte und auch mein Frauenarzt drängten mich zur Scheiden-OP, da sie meinten, daß meine Scheide nur ein paar Zentimeter lang sei und blind enden würde. Mir wurde erklärt, daß man mir eine künstliche Scheide aufbauen wolle und daß dies ein größerer Eingriff wäre.
Ich blockte ab. Ich war immer sehr empfindlich im Scham- und Leistenbereich, von Kleinkind an, und der Gedanke an solch eine OP versetzte mich in Panik. Nie werde ich die Untersuchungen vergessen, bei dem mir die Ärzte die Leisten und den Schambereich untersuchten.
Man ließ mir Zeit. Kurz vor meinem Abitur verliebte ich mich das allererste Mal in einen Jungen aus meiner Schule. Ich hatte Angst, daß er wenn er herausfinden würde, was mit mir los ist, mich als ein Monster ansehen würde. Er zeigte großes Interesse an mir und ich war über beide Ohren verliebt. Das erste Mal in meinem Leben wagte ich, darüber zu sprechen. Ich hatte nichts zu verlieren. Ich ging davon aus, daß er sich niemals mit einem Mädchen wie mir einlassen würde. Ich war überrascht, als ich feststellte, daß er sehr gefühlvoll reagierte. Zum ersten Mal im Leben wurde ich intim mit einem Jungen und stellte fest, was es heißt zu lieben. Ich faßte neuen Mut und vereinbarte einen Termin für ein Gespräch bezüglich der Scheiden-OP in der Uniklinik. Mein Freund begleitete mich. Er war bei allen Gesprächen und Untersuchungen dabei. Er meinte, ich solle es für mich machen lassen, nicht für ihn.
Doch wie Beziehungen sind, ging meine erste große Liebe zu ende und nach einem Jahr trennten wir uns. Nun sah ich keinen Anlaß, die Scheiden-OP machen zu lassen. Aber ich wußte, daß ich mich nicht schämen muß für das was ich bin. Kurz darauf lernte ich einen neuen jungen Mann kennen und auch ihm schenkte ich reinen Wein ein. Auch er war sehr verständnisvoll. Diese Beziehung lief zwei Jahre. Ich konnte zwar keinen normalen Beischlaf praktizieren, aber mit bestimmten Stellungen und viel Phantasie liebten wir uns und es war für uns beide immer sehr schön.
Heute bin ich 31 und mit meinem dritten Partner zusammen. Und das jetzt über sechs Jahre. Unsere Freundschaft haben wir 2001 mit einer Hochzeit besiegelt. Wir haben eine glückliche und harmonische Beziehung. Nun wollen wir beim Jugendamt den Antrag für unsere erste Adoption stellen.
Ich habe gelernt, daß AIS nichts ist wofür man sich schämen muß, im Gegenteil. Wir AIS-Frauen haben eine ganz besondere Liebe zu vergeben. Eine Liebe, die sehr innig und tief ist. Wir dürfen uns von unseren Gefühlen und von unserem Umfeld nicht unter Druck setzen lassen. Je mehr Menschen über AIS erfahren, um so normaler werden sie damit auch umgehen. Und um so einfacher werden AIS-Mädchen und AIS-Frauen mit ihrem Leben klarkommen. Ich schäme mich nicht mehr, es war ein langer Prozeß, den ich durchgemacht habe, aber ich habe erkannt, daß man sich von den geheimsten Gefühlen und den Empfindungen, die eine Seele sehr quälen und das Selbstwertgefühl völlig vernichten können trennen muß. Und das geht nur, wenn man zu sich steht, zu dem was man ist. Eine Frau, die soviel zu geben hat, wie kaum eine andere. Eine Frau, die mehr ist als eine Frau. Ein Individuum.
Vor circa einem Jahr habe ich eine Mail bekommen, die sich auf eine Frage von mir in einem gynäkologischem Forum bezog. Diese Mail stammte von einer Person , die fast das gleiche durchgemacht hat wie ich. Das war das erste Mal, daß ich jemanden getroffen habe, der mich verstand, der genau wußte, wovon ich sprach. Es war, als hätte ich meine verlorengegangene Schwester gefunden. Jahrelang habe ich nach einer Frau gesucht, die auch AIS hat. Kein Arzt konnte mir weiterhelfen. Doch durch sie wurden bei mir alle Erinnerungen und Empfindungen wieder geweckt. Wir haben lange Mails ausgetauscht, und durch sie bin ich bei den XY-Frauen gelandet.
Mein Leben mit dem Y-Chromosom hat noch so viele kleine Stories, doch um die alle zu erzählen, müßte ich ein Buch schreiben.
Tascha