Tine
Tine
Stand Mai 2002
Die medizinischen Fakten meiner Geschichte sind eigentlich schnell erzählt: als ich mit fast 17 Jahren meine Tage immer noch nicht hatte, ging ich endlich doch mal mit meiner Mutter zu einer Frauenärztin, die mich nach einer in meiner Erinnerung sehr kurzen Untersuchung und ausgestattet mit einem verschlossenen Brief in die Uni-Klinik Düsseldorf überwies. Dort angekommen, traf ich auf einen alten, kurz vor dem Ruhestand befindlichen Professor, der meine Mutter mit warmen Worten beruhigte und mir, wenn ich mich recht erinnere, sogar übers Haar streichelte, während ich auf dem gynäkologischen Stuhl lag; sowie seinen jüngeren Kollegen (aufstrebend und sehr tough), der sich in meiner Gegenwart immer nervös übers Gesicht strich und durch die Haare fuhr. Nach Untersuchungen, an die ich mich so gut wie gar nicht mehr erinnern kann, bestellte der nun für mich „zuständige“ jüngere Arzt meine Eltern und mich getrennt zu sich, setzte sich mir gegenüber an seinen Schreibtisch und sagte mir, ich könne keine Kinder bekommen und so etwas wie: ich hätte verkümmerte Eierstöcke, die schnell Krebs entwickeln könnten und daher ganz schnell entfernt werden müßten. Außerdem sei meine Scheide viel zu kurz und ich könne wohl so keinen Geschlechtsverkehr haben, aber das könne man ganz einfach operieren. Dann erklärte er mir erstaunlich ausgiebig die unterschiedlichen Methoden dieser Operation (heute weiß ich, dass er eine „Koryphäe“ auf diesem Gebiet ist …). Vorher hatte ich wohl schon irgendwann mal erzählt, dass ich keinen Freund hatte, daher sagte er an dieser Stelle nur, ich solle am Besten erst wieder kommen, wenn ich einen hätte (Er sagte wirklich wörtlich: „komm mal wieder, wenn du einen Freund hast“ !!! ). Schnell wurde ein Operationstermin vereinbart, um meine „Eierstöcke“ zu entfernen und ich war fürs Erste entlassen. Außerdem bekam ich noch den Ratschlag mit auf den Weg, niemandem ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen, denn das würde mir nur Probleme bereiten und niemand könne damit umgehen.
Was der Arzt meinen Eltern damals gesagt hat, weiß ich bis heute eigentlich nicht genau. Aber sie waren immerhin noch in der Lage, in Bibliotheken Literatur über „mich“ zu suchen. (Die bekam ich glücklicherweise erst Jahre später zu Gesicht …) Dort fanden sie den Hinweis, vor allem das Entartungsrisiko bei Testikulärer Feminisierung sei doch sehr umstritten. Woraufhin sie mir vorschlugen, noch andere Meinungen einzuholen (was sie dann auch per Brief taten) und die Operation erst einmal aufzuschieben. Von den Reaktionen meines Arztes wurde ich, wenn ich mich recht erinnere, ziemlich ferngehalten, da meine Mutter diesen Aufschub bei ihm „einreichte“. Aber er bestellte mich dann noch einmal zu sich und sagte, ich müsse unbedingt alle sechs Wochen eine Blutuntersuchung machen lassen, um das Entartungsrisiko gering zu halten. Ich war somit der Operation fürs Erste entronnen und habe diese „Eierstockentfernung“ dann -ganz typisch für mich- drei Jahre lang vor mir her geschoben, sie gleichzeitig jedoch immer als Horror vor meinem inneren Auge gehabt.
Nun begann eine Zeit des absoluten Spießrutenlaufs: niemand durfte erfahren, dass ich meine Tage nicht bekam, niemand durfte wissen, was ich da in regelmäßigen Abständen während der ersten zwei Unterrichtsstunden machte (Blutabnahmen waren und sind nur morgens möglich!), niemand durfte wissen, warum ich noch immer so wenig Scham- und Achselbehaarung und irgendwie einen „Kinderkörper“ hatte (also: nie vor anderen aus- oder umziehen!) und Jungen sah ich ab diesem Zeitpunkt ohnehin vorsichtshalber nicht mehr an. Ich verliebte mich aber „pro forma“ in einen wesentlich älteren Mann, der mich wahrscheinlich noch nicht einmal annähernd als weibliches Wesen wahrgenommen hat. Ich fand immer mehr Dinge an mir anormal, komisch, auffällig: meine großen Hände, die feinen Härchen überall auf meinem Körper (sogar auf Fingern und Zehen!), meine wahnsinnig vielen Muttermale, meinen Schweiß, meine Haut … . Ich wußte ja nur, dass irgend etwas ganz Schlimmes mit mir nicht stimmte und reimte mir daher alles mögliche zusammen, konnte mich damit aber nie auseinandersetzen.
Immer wieder überkam mich die Angst, vergewaltigt zu werden: was, wenn es dann nicht ginge … ?!
Dazu kam die riesige Angst vor dem Krebs. Ich drückte mich tagelang darum herum, wieder einmal (wie immer ungefähr zwei Wochen nach der Blutabnahme) in der Uni anzurufen, um „die Werte“ von irgendeiner völlig uninformierten Schwester mitgeteilt zu bekommen. Nie werde ich den Tag vergessen, als einmal eine der Damen irgendeine Notiz auf meiner Akte in der Klinik mißverstand. Durch ihre Bitte, doch den Arzt persönlich anzurufen, hat sie meine Mutter (die dieses eine Mal aus irgendeinem Grund angerufen hatte …), mich und damit unterschwellig auch unser gesamtes Familienleben in einen tagelangen Zustand von Panik versetzt!
Nachdem ich drei Jahre lang so gelebt und alles möglichst tief in mir verschlossen hatte, traf ich in der Klinik auf eine neue Ärztin. Sie „übernahm“ mich und fing endlich an, mit mir zu reden, mich wie einen normalen Menschen zu behandeln. Zwar drängte auch sie mich zur „Eierstockentfernung“ und hat mir gerade in diesem Punkt nie die Wahrheit gesagt, aber immerhin erfuhr ich jetzt etwas über meinen Chromosomensatz, wurde über die Hintergründe meiner mysteriösen „Krankheit“ aufgeklärt, konnte in angenehmer Atmosphäre darüber sprechen und wurde auch angenehm feinfühlig behandelt und untersucht. Vor allem aber hatte ich das Gefühl, mit jeder Frage jederzeit kommen zu können – ein unglaublicher Fortschritt!
Irgendwann lernte ich dann meinen ersten Freund kennen – wahnsinnig schön, unglaublich, himmlisch und – panische Angst! Was sollte ich ihm sagen, wie sollte es gehen, wie sollte er „eine wie mich“ wirklich lieben können? Sofort rannte ich zu meiner Ärztin, die mich nur beruhigte und mir riet, alles auf mich zukommen zu lassen. Es sei doch theoretisch alles in Ordnung (plötzlich wurde meine Scheide für „verkürzt, aber unauffällig“ erklärt …!). Und auch bei anderen Frauen gäbe es beim ersten Mal Probleme, er würde es also gar nicht unbedingt merken. Und erzählen könne ich ihm ja alles nach und nach, und immer nur das, womit ich mich wohlfühlte … . Und dann geschah es und war einfach nur wunderschön – ohne Operation, ohne Probleme !!! Ich schwebte wochenlang auf Wolken!
Natürlich wurde unsere Beziehung immer intensiver und ich hatte immer mehr das Bedürfnis, ihm davon zu erzählen – aber was? In welcher Reihenfolge? Und vor allem: WIE? Ich wußte so wenig und es gab in mir irgendwie überhaupt keine Worte dafür, weil ich mir jeden Gedanken daran so lange verboten hatte und auch bis dahin noch mit niemandem darüber gesprochen hatte – selbst mit meinen Eltern hatte ich im Grunde genommen all die Jahre hindurch nur kurze Gespräche ohne viel emotionalen Inhalt geführt. Sie glaubten wohl, ich käme damit einigermaßen klar und es wäre das Beste, wenig daran zu rühren…
Die Idee, nach anderen „Kranken“, nach einer Selbsthilfegruppe zu suchen, nahm immer mehr Gestalt in mir an. Mit Hilfe meiner Ärztin bekam ich dann irgendwann und über einige Umwege die Telefonnummer einer anderen Frau mit Androgenresistenz.
Heute weiß ich, dass das ein echter Neubeginn in meinem Leben war. In Gesprächen, zuerst nur mit ihr, später auch in der neu entstehenden Kontaktgruppe, lernte und lerne ich immer noch, über mich zu reden. Ich lasse Gedanken und Worte zu, die vorher ganz, ganz tief in mir verschlossen waren und nur in Alpträumen ihren Platz hatten (die ich allerdings wie Ahnungen schon von klein auf hatte, obwohl niemand etwas von meiner AIS wußte …). Ich lernte auch, die Wahrheit über mich und meinen Körper zu akzeptieren. Es war zwar verdammt hart, am Kaffeetisch (von eben jener ersten Frau, die ich kennenlernte) gesagt zu bekommen, daß die vermeintlichen Eierstöcke in Wirklichkeit Hoden waren (sie ging davon aus, dass ich es wüßte). Und einige Zeit war ich dadurch auch völlig aus der Bahn geworfen. Aber inzwischen bin ich unglaublich froh, dass ich es weiß. Nur so konnte ich meinen eigenen Umgang damit entwickeln. Heute sage ich von mir, daß ich mich dazu entschieden habe, eine Frau zu sein, als Frau zu leben – noch nicht einmal bewußt gedanklich, aber nach einer Phase intensiven Zweifelns an meiner Geschlechtsidentität stellte ich fest, dass ich es mir nicht vorstellen könnte, ein Mann zu sein. Daß ich mich im Kreis von Frauen zwar dann unwohl fühle, wenn sie über Regelbeschwerden und Kinderkriegen sprechen, ansonsten aber doch emotional eine von ihnen bin und das auch sehr genieße.
Nach meinen ersten Kontakten zu anderen Betroffenen faßte ich dann auch ziemlich bald Mut, meinen engsten Freundinnen über meine Androgenresistenz zu erzählen. Jahrelang hatte ich wirklich mit niemandem geredet und habe rückblickend darunter eigentlich am meisten gelitten. Daher war es ein riesiger, aufregender und hinterher wunderschöner Schritt, als ich eines Abends in einer Kneipe mit zitternden Knien meiner Freundin davon erzählte und sie einfach zuhörte und wohl merkte, dass da gerade etwas ganz Besonderes passierte. Wir haben dann an eben jenem Abend noch unglaublich viel darüber geredet, sie hat sehr viel gefragt und an manchen Stellen mit mir gelitten und gewütet, war an anderen irre verständnisvoll und feinfühlig – und es war einfach nur eines der schönsten Erlebnisse meines Lebens!
Außerdem zwang ich jetzt meine Eltern buchstäblich dazu, mit mir darüber zu reden. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, meine zwei Jahre ältere Schwester in meine Auseinandersetzung mit mir und meinem Körper einzubeziehen. So öffnete ich mir immer mehr Kanäle, um mit der Androgenresistenz ein möglichst unbeeinträchtigtes Leben zu führen. Und erstaunlicherweise hat bisher noch niemand damit „nicht umgehen können“. Im Gegenteil: meine Freundschaften haben sich eher intensiviert, sind offener und ehrlicher geworden. Und auch mit meinen Eltern und meiner Schwester gehe ich generell offener um, nicht nur im Hinblick auf meine Androgenresistenz.
Darüber hinaus habe ich in der Kontaktgruppe eine für mich ganz neue, tiefe Dimension von Beziehungen zu anderen Menschen kennengelernt. Es tut einfach so gut, sich in einem Kreis von Menschen zu befinden, die sofort verstehen, was ich meine, wenn ich von meinen Gedanken, Gefühlen, Zweifeln und Ängsten rede! Nach jedem Treffen verspüre ich so etwas wie „Heimweh“ und freue mich dann wie wahnsinnig über die erste Mail, den ersten Anruf, lebe einige Tage lang wie in einer anderen Welt. Und doch wird die Androgenresistenz jedes mal mehr zu meiner Wirklichkeit, fühlt sich weniger versteckt und verheimlicht an. Inzwischen erzähle ich zwar nicht mehr jedem Mitbewohner davon, finde nicht mehr, daß mich nur kennt, wer auch über meine Androgenresistenz Bescheid weiß, benutze sie nicht mehr als „Freundschaftstest“, aber ich genieße es sehr, dass meine wirklich engen Freunde es wissen, mit mir auch von sich aus darüber reden und mich so ganz stark tragen und halten.
Von meinem ersten und bisher einzigen echten Freund bin ich inzwischen getrennt. Gerade in der letzten Zeit unserer Beziehung wurde meine Androgenresistenz, die vorher immer offen zwischen uns thematisiert wurde und daher meiner Ansicht nach nie ein Problem war, plötzlich doch immer belastender. Er fing an, immer öfter die Frage nach „normal weiblich oder nicht“ zu stellen. Er fand mein im Alltag oft recht legeres Äußeres, meine Abneigung gegen Röcke, meine wenigen Stunden vor dem Spiegel und meine kurzen Haare „unweiblich“. Immer öfter meinte er, unreife, kindliche Züge an mir zu entdecken und begann, sich nach einer „normalen“ Frau zu sehnen … denke ich. Trotzdem hielt ich noch lange an unserer Beziehung fest und schraubte meine Bedürfnisse immer weiter zurück, nur um überhaupt einen Freund zu haben. Ich hatte (und habe) Angst davor, noch mal einem Mann die Wahrheit über mich erzählen zu müssen, habe irgendwo ganz tief in mir drin gedacht, ich müßte froh sein, überhaupt einen abbekommen zu haben, dürfte das nicht leichtfertig aufgeben. Dabei habe ich sehr stark den Kontakt zu mir selbst verloren … .
Jetzt bin ich auf dem mühsamen Weg, meine eigenen Bedürfnisse wieder wahrzunehmen, mich nicht mehr vor mir selbst zu verstecken. Und auch wenn ich immer noch riesige Angst vor dem Anfang einer neuen Beziehung habe, bin ich doch überzeugt davon, dass ich nur so in einer Partnerschaft wirklich glücklich werden kann: wenn ich zu mir so stehe, wie ich bin – neben allem anderen auch zu meiner individuellen Körperlichkeit!
Ich habe das Gefühl, meine individuelle Art von Weiblichkeit inzwischen mehr auf Herzlichkeit, Sensibilität, Offenheit und Charakterstärke zu gründen, als auf körperliche Attribute und Optionen, die ich nun einmal zum Teil nicht habe. Klar ist das mit Sicherheit eine Art Krücke für mein Selbstvertrauen, aber ich denke doch, dass ich anderen Frauen meines Alters auch etwas voraus habe. Meine Weiblichkeit ist mir eben nicht ganz selbstverständlich gegeben, sondern ich mußte sie erst für mich definieren und tue das immer noch und wahrscheinlich auch immer wieder. Ich denke manchmal, das hat mich vielleicht auch irgendwie sensibel und offen gemacht für das „Innenleben“ anderer Menschen und ist so zu einem meiner besonderen Merkmale geworden.
Ich würde nie so weit gehen, zu sagen, ich wäre froh, AIS zu haben. Im Gegenteil – ich hadere immer noch oft damit, wünsche mir, „normal“ zu sein, aber mit Hilfe der Gruppe habe ich gelernt, für mich das Beste daraus zu machen, es zu akzeptieren und trotzdem ein schönes, erfülltes und weitgehend uneingeschränktes Leben zu haben. Und ohne pathetisch sein zu wollen, muß ich sagen: dafür bin ich so dankbar …!
Tine