Maria
Maria
Stand März 2002
Als ich noch unterwegs war, redeten meine Eltern von Christoph. Ich wurde aber Maria, ein lebhaftes fröhliches Kind das mit Puppenhaus und Teddy spielte, aber auch alle Automarken kannte und eine beträchtliche Sammlung Spielzeugautos besass.
Als wir im ersten Jahr im Gymnasium waren, ging es in Biologie um Chromosomen. Einer Schülerin wurde im Mund ein Abstrich gemacht, um die Chromosomen zu zeigen. Eigenartigerweise hatte ich damals die Phantasie „Wenn man mir einen Abstrich macht, werden es männliche Chromosomen sein.“ Ich weiß noch heute, wie ich im Labor saß und diesen Gedanken dachte. Wir wissen wohl doch mehr als wir wissen.
Im nächsten Jahr besuchte ich einen Freund in einer anderen Stadt. Seine Freunde fragten, ob ich Junge oder Mädchen sei. (Ich hatte immer kurzes Haar, da meine Mutter das so praktisch fand). Er sagte dann aus Witz „Neutrum“ und statt ihm eine zu kleben, war ich irgendwie fasziniert und dachte wie passend das war. Da fällt mir auch eine andere Geschichte ein. Als ich mit etwa 8 Jahren meine Oma besuchte und auf dem Spielplatz spielte, fragten mich zwei Kinder die ganze Zeit, ob ich Junge oder Mädchen sei. Sie wollten mir einfach nicht glauben, dass ich ein Mädchen bin. Irgendwann forderten sie mich auf, mich im Gebüsch zu offenbaren. Ich gab schließlich nach und sie ließen von mir ab. Doch ein Mädchen!
Als meine Clitoris mit 13/14 zu wachsen begann (ich habe PAIS), dachte ich, es läge daran, dass ich relativ früh angefangen hatte, mich selbst zu befriedigen und schwieg erst mal. Aber irgendwann wurde es mir dann doch unheimlich und ich fragte eine Krankenschwester, die uns öfters besuchte. Meiner Mutter konnte ich es nicht sagen. Die Krankenschwester schickte mich umgehend zum Hausarzt, und der mich ins Krankenhaus. Dort wurden dann zwei Wochen lang alle möglichen Tests gemacht. Ich bin heute noch zu tiefst empört, wenn ich daran denke, wie ich mit offenen Beinen im Bett lag und die Medizinstudenten in Scharen in das Zimmer drängten, um einen besseren Blick zu bekommen. Oder wie unter schrecklichen Schmerzen ohne Narkose, Schläuche in alle Öffnungen geschoben wurden und am Bildschirm geschaut wurde, wie diese verlaufen. Auch hier die gaffenden Mediziner. Und die medizinischen Nacktfotos, teilweise mit meiner Schwester, (die kein AIS hat, aber durch ihre Untersuchungen so traumatisiert ist, dass sie seitdem keinen Frauenarzt mehr aufgesucht hat und lieber sterben würde als eine Vorsorgeuntersuchung über sich ergehen zu lassen) bei der man sich wie ein ausgestelltes Monster im Zirkus fühlt. Als die Untersuchungsphase vorbei war, hieß es, man müsse eine „innere Untersuchung“ unternehmen. Dafür wäre ein Bikinischnitt von Hüfte zu Hüfte notwendig. Ich war gerade 14 geworden.
Die OP fand in der Radiologie statt, ich sah das Schild, als man mich durch die Tür schob. Diese Tatsache, gekoppelt mit dem Tuscheln der aufgescheuchten Eltern und Ärzte überzeugten mich davon, dass ich Krebs habe und dass niemand mir die Wahrheit sage.
Nach der OP hieß es, die Eierstöcke wurden entfernt, ich könne keine Kinder bekommen. Das war ein furchtbarer Schock. Kaum dass ich aus der Narkose erwacht war, versuchte ich die Selbstbefriedigung – ich hatte wohl doch Angst gehabt, sie schnippeln an mir herum. Zum Glück war hier alles in Ordnung. Wenigstens das.
Im Laufe der Jahre erfuhr ich bei den Kontrolluntersuchungen von der Oberärztin jedes mal immer mehr kleine Nettigkeiten. „Ach übrigens, wir mussten Ihre Gebärmutter entfernen.“ … „Ach übrigens, Ihre Scheide ist zu kurz, wir wissen nicht ob Sie Sex haben können. Aber wenn Sie heiraten wollen, können wir die Schamlippen zusammennähen, um die Vagina nach außen zu verlängern, oder ein Stück Schenkel innen anfügen.“ Zum Glück winkte ich ab. “Ach übrigens, promiske Männer werden sie besonders attraktiv finden.“ Eine begeisternde Perspektive mit 16!
Als ich 18 war, ging ich vor der Universität ein Jahr weg von zu Hause. Falls ich dort zum Arzt musste, bekam ich ein Schreiben über meinen „Befund“ mit. Ich habe es noch. Unglaublich. Da steht drin, mir seien Gebärmutter und Eierstöcke wegen Unterentwicklung entfernt worden, und eine Hormonersatztherapie eingeleitet worden. Mit diesem Wissenstand lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Das war vor 29 Jahren. Ich erzählte ihm recht bald, was ich wusste. Trotzdem ließ er sich nicht abschrecken und nach 8 Wochen schliefen wir das erste mal miteinander. Es dauerte 3 Monate, bis er in mich eindringen konnte, da das Jungfernhäutchen vernarbt war. Er war aber sehr zärtlich und geduldig. Ich fühlte mich ganz angenommen wie ich war, und blühte richtig auf. Meine Eltern witterten allerdings, was in der Ferne so vor sich ging. Mein Vater bekam es „wegen mir“ mit dem Herzen zu tun. Es kamen böse Briefe (Männer sind nur hinter dem einen her …) Sie hatten sich so sehr einen älteren Mann (der sich nicht mehr so für Sexualität interessiert) für mich gewünscht, und nun hatte ich einen Gleichaltrigen. Ich wollte dann irgendwann nicht mehr in die Heimat zurückgehen. Meine Partnerschaft war mir wichtiger als die Karriere geworden. Als ich dies meinen Eltern mitteilte, flippten sie aus. Mein Vater drohte: „Wenn du nicht heimkommst, gibt es keinen Pfennig und eine große Trennung zwischen uns.“
Ich war mit 19 nicht stark genug, mich gegen meine Eltern durchzusetzen. Ich willigte zur Rückkehr ein. Mir fielen die Haare aus. Es ging mir elend. Mein Freund brachte mich mit meinem ganzen Krempel zu den Eltern. Unterwegs war ich bei der Oberärztin. Sie wollte gerne auch mit meinem Freund sprechen. Er aber wollte nicht, und blieb im Auto. Nach den üblichen Untersuchungen erzählte sie mir, ich hätte ein „gebrochenes Y“, aber ich solle mir darüber keine Gedanken machen, es sei kein richtiges Y. Ob es was mit meiner Operation zu tun hätte, fragte ich. Die Frage wurde kräftig verneint. Biologisch etwas unterbelichtet, erzählte ich alles nachher meinem Freund, der mich die nächste Zeit „Meine Y-Frau“ nannte.
Unsere Beziehung überlebte die vierjährige Trennung und nach dem Studium zogen wir dann zusammen. Nach 10 Jahren wilder Ehe heirateten wir dann. Eigentlich habe ich ihn dazu gedrängt – ich wollte die bedingungslose Annahme, habe das aber wohl zu sehr am äußeren Status festgemacht statt zu erkennen, dass etwas anderes fehlte. Das Unverbindliche hatte mich so genervt, da ich mich in meiner Weiblichkeit doch so verletzlich fühlte. Nach 18 Jahren meldete er Unzufriedenheit in der Sexualität. Sein Umgang damit war aber für mich ein Verrat unserer Beziehung, meiner/unserer Sexualität, welche mir so unendlich viel (zu viel?) bedeutet hatte.
Ich beschloss dann im jugendlichen Alter von 35, dass die Zeit gekommen war, mich mit meiner medizinischen Kiste selbst auseinanderzusetzen. Die Ärztin war tot, meine Krankenakten nicht auffindbar, angeblich vernichtet. Aber der Endokrinologe lebte noch und empfahl mir einen jüngeren Spezialisten. Dieser nahm sich unendlich viel Zeit, mich zu untersuchen und mir alles von A bis Z zu erklären. Danach fuhr ich wieder in die Stadt. Ich muss sagen, ich war richtig erleichtert. Ich weiß noch wie ich dachte „DAMIT kann ich leben.“ Die Wahrheit war eine fassbare Grösse mit der ich umgehen konnte.
Meine Schwester (die nicht AIS hat) tat die Selbsthilfegruppe auf. Ich war beim zweiten Treffen dabei und habe kein Wort gesagt. Wir waren 5 Betroffene und einige Eltern. Beim Frühstück im Hotel haben wir uns köstlich amüsiert. Wenn die anderen Gäste wüssten … . Zu viert im Auto auf dem Weg zum Bahnhof sagten wir: „Heute schreiben wir Geschichte. Wahrscheinlich sind noch nie vorher 4 AIS Frauen zusammen in einem Auto gefahren.“ Das war ein tolles Gefühl.
Vor dem Treffen hatte ich meine Cousine getroffen – wir hatten uns im Lauf der Jahre aus den Augen verloren. Sie sagte mir: „Ich habe schon immer gewusst was Du bist – du bist Hermaphrodit – das hat mir mein Vater erzählt.“ Nach dem Treffen machte ich Halt bei Eltern von einer Schulfreundin, die mich nach meiner OP freundlicherweise eine Woche in Urlaub mitgenommen hatten. Es stellte sich heraus, auch sie wussten Bescheid.“ Und ich als Betroffene wusste so gut wie gar nichts. Ich war unglaublich wütend auf meine Eltern. Ich erzählte es meinem Mann am Telefon. Beim H – Wort ist er wohl in aller Stille ausgerastet und handelte völlig kopflos. Die Beziehungskrise vertiefte sich und ich hatte nach einem Jahr einen totalen Zusammenbruch, wollte dann nicht mehr leben. Rückblickend würde ich sagen, dass ich in meiner Unsicherheit über meine Diagnose und aus Minderwertigkeits-gefühlen als Frau, meinem Partner zu viel Macht über mein Glück gegeben hatte. Ich war viel zu abhängig von seinem Urteil über mich als Mensch und als Frau, hatte zu wenig an mir gearbeitet, in der irrigen Meinung, dass es reicht, wenn ich von außen ein „Gütesiegel“ bekomme.
Sechs Monate davor, als ob ich es geahnt hatte was in der Ehe auf mich zukommen würde, hatte ich beschlossen, meine emotionalen Probleme anzugehen. Ich hatte jahrelang ein inneres Bild von einer gepanzerten Bleitruhe, voll mit Wellen – ungeflossenen Tränen. Ich beschloss, eine freudianische Analyse zu machen, die eine der besten Erfahrungen in meinem Leben war. Es kochte viel Wut und Trauer auf, die ungeheulten Tränen begannen zu fließen. Aber ich begann auch allmählich meine inneren Kräfte zu entdecken, ein Gefühl für mein Ureigenstes zu bekommen. Ich verstand auch, dass viele Probleme die mein Mann mit meiner Diagnose hatte, in seiner eigenen Biographie begründet waren. Mit einem anderen Mann machte ich nach einigen Jahren beglückende Erfahrungen. Dadurch ist viel heil geworden.
Nun sind 7 Jahre seit meiner großen Lebenskrise vergangen, die Analyse ist seit über einem Jahr abgeschlossen. Die innere Talsohle ist durchschritten, durchlitten. Ich habe keine Angst vor irgendwelchen inneren Abgründen mehr. Ich konnte mich in der Analyse meinem männlichen Anteil stellen, bejahen und integrieren, wie es vielleicht viele Menschen nach der Lebensmitte machen, war aber überrascht wie wenig Männliches ich in der Tiefe vorfand. Klar wurde aber auch, dass AIS nicht mein Hauptproblem war, aber meine Erfahrungen damit, gemischt mit schwierigen Eltern- und Ehekisten bildeten zusammen ein explosives Gemisch. Die Energie, die durch Verdrängung bedrohlicher Gefühle gebunden war, steht mir nun zum Leben zur Verfügung. Ich lebe gerne und intensiv – nach so einem überwundenen Zusammenbruch ist es ein bisschen so, als ob man das Leben neu geschenkt bekommt.
Und AIS? Die Kinderlosigkeit war ein schwerer Brocken, aber ich habe intensiven Kontakt zu vielen Kindern und 5 Patenkindern. Inzwischen fühle ich mich in meinem Frausein dadurch nicht mehr beeinträchtigt. Nicht die Annahme eines Mannes macht mein Frausein aus, sondern mein tiefstes inneres Gefühl für mich selbst. Andere AIS Frauen kann ich nur ermutigen, die Entdeckungsreise einer Therapie anzutreten. Eine Analyse ist sehr anstrengend und ein langer gründlicher Weg, der keine schnellen Erfolge zeigt, aber wie ich finde unendlich lohnend. Die Kasse zahlt bis zu 360 Stunden.
Die Selbsthilfegruppe ist für mich wie ein Stück Familie geworden. In der Begegnung mit anderen AIS Frauen geschieht sehr viel Heilung. Über das schreckliche Geheimnis, das man so lange gehütet hat, kann man endlich in aller Offenheit reden. Diese Frauen sind beeindruckende Menschen mit Tiefgang und Herz und es ist für mich ein Privileg sie zu kennen und zu ihnen zu gehören. Damals sagten sie mir immer: „was sie haben ist so selten, sie werden nie einer anderen Betroffenen begegnen.“ Die Vorstellung, wie viele AIS Frauen auf der Welt in dieser irrigen Meinung von ihren Ärzten gehalten werden, macht mich ganz wütend.
Und die Ehe? Wir sind gute Freunde die sich wertschätzen und die Gegenwart des anderen geniessen, aber räumlich und innerlich uns gegenseitig mehr Luft geben. Ich definiere mich nicht mehr durch ihn, werde mich ihm gegenüber wahrscheinlich nicht mehr in der Tiefe wie früher öffnen können. Das ist schon bitter, nachdem wir in unserer ersten Zeit unzertrennlich waren, für unsere Freunde das Traumpaar. Aber es hätte noch schlimmer kommen können …
Maria