Geschichten

Luise

Luise

Stand April 2001

Ich bin 1965 als „ganz normales“ Mädchen zur Welt gekommen und in einer liebevollen Familie aufgewachsen. Mein zwei Jahre älterer Bruder war stolz darauf, jetzt eine Schwester zu haben. Nach mir kamen noch eine Schwester und ein kleiner Bruder zur Welt.
Als Kind war ich ein sehr „typisches“ Mädchen. Ich zog mich gerne schön an und spielte voller Hingabe mit meinen Puppen. Für mich stand fest, dass ich später einmal viele Kinder haben würde. Natürlich hatte ich in der Grundschule auch eine allerbeste Freundin, mit der ich jede freie Minute verbrachte. Als die Entscheidung anstand, in welche weiterführende Schule wir gehen würden, wählten wir das gleiche Gymnasium, um ja nicht voneinander getrennt zu werden.
Mit dem Übergang ins Gymnasium begannen dann ganz allmählich meine Schwierigkeiten. Meine Freundinnen begannen sich körperlich zu entwickeln. Manche lehnten diese körperlichen Veränderungen völlig ab, andere fanden sie aufregend – aber für alle wurden sie zu einem der wichtigsten Themen. Ich selbst konnte nicht mitreden – bei mir geschah nichts. Meine Mutter erzählte mir, sie selbst habe ihre erste Periode auch erst recht spät bekommen, und so ging ich davon aus, es würde schon alles noch kommen.
„Es“ kam nicht. Immer mehr geriet ich in die Rolle der Außenseiterin. Meine beste Freundin orientierte sich zu anderen Mädchen. Als ich vierzehn war und immer noch keine Anzeichen von Brustwachstum und Schambehaarung zu sehen waren, klagte ich meiner Mutter mein Leid. Sie konsultierte mit mir eine Frauenärztin, die meinte, ich solle doch Geduld haben. Ich weiß noch, dass ich mich nach diesem Arztbesuch wochenlang schämte.

Nun begann ich, meinen Körper zu verstecken. Ich zog mich immer mehr in mich selbst zurück, und die Freundschaften, die ich noch hatte, blieben an der Oberfläche. Ich begann, mich selbst hässlich zu finden und entwickelte eine Angst vor allen Spiegeln. Die einzige Gelegenheit, zu der ich mich meinem Spiegelbild stellte, war der tägliche Gang ins Badezimmer, sobald ich aus der Schule kam. Täglich schloss ich mich dann im Bad ein, entkleidete mich und überprüfte meinen Körper, ob er nicht irgendwelche Anzeichen einer Entwicklung zur Frau zeigte. Nichts.
Mit den Jahren wurde es immer schwieriger, meinen Körper zu verstecken. Am schlimmsten war die Tatsache, dass das Brustwachstum ausblieb, denn dies war am schwierigsten zu vertuschen. Meine drei Jahre jüngere Schwester entwickelte sich normal, wurde bald für meine ältere Schwester gehalten. Sie hatte ihren ersten Freund, lebte ein normales Teenager-Leben.
Nach und nach begann ich, mir selbst die Schuld für die ausbleibende Entwicklung zu geben. Ich war überzeugt, ich sei irgendwie innerlich „verklemmt“, und dadurch habe sich auch körperlich etwas verklemmt. Ich war es nicht wert, mich zur Frau zu entwickeln. Alle Energie, die ich aufbringen konnte, benötigte ich dafür, mich zu verstecken. Die warmen Jahreszeiten waren die schlimmsten für mich. Ich zog es vor, mich warm anzuziehen und im Sommer zu schwitzen, statt diesen Körper, für den ich mich so sehr schämte, den Blicken der anderen aussetzen zu müssen. Ohnehin bekam ich mit, dass meine Klassenkameraden über mich tuschelten. Jede Sportstunde wurde zur Qual. Sammelumkleideräume, Gemeinschaftsduschen… Ich legte einen Panzer um mein Innerstes, um irgendwie existieren zu können. Ich fühlte mich unendlich allein.

Als ich 17 Jahre alt und noch immer keinerlei Entwicklung zu verzeichnen war, konsultierte meine Mutter erneut mit mir einen Arzt. Es wurde eine Bauchspiegelung durchgeführt. Ich erfuhr, dass ich an einer Hormonstörung leide, durch die meine geschlechtliche Entwicklung ausgeblieben sei. Ich hätte keine Gebärmutter, nur eine sehr kurze Scheide. Ich würde nie Kinder bekommen können. Durch eine Hormontherapie werde nun jedoch die äußere Entwicklung zur Frau beginnen. Die Scheide könne später operativ gedehnt werden. Im Bauchraum seien „rudimentäre Gonaden“ entdeckt worden, die wegen des Entartungsrisikos entfernt werden müssten.
Ich fühlte mich unendlich erleichtert. Ich war nicht verrückt oder verklemmt, sondern es gab eine körperliche Ursache für all dies. Ich würde mich äußerlich zur Frau entwickeln, das Versteckspiel würde nicht endlos weitergehen! Dass ich keine Kinder bekommen konnte, war zwar traurig, aber wog lange nicht so schwer wie alles andere. Eine ungeheure Last war mir abgenommen worden.
Tatsächlich begann ich mich nun körperlich zu entwickeln. Nach ca. einem Jahr teilte mir mein Arzt mit, das Brustwachstum sei nun wohl beendet und das Ergebnis zufriedenstellend. Ich ging nach Hause, schloss mich in mein Zimmer ein und weinte stundenlang. Nichts war zufriedenstellend. Ich fühlte mich keineswegs als Frau. Noch immer hatte ich das Bedürfnis, mich zu verstecken, noch immer fühlte ich mich hässlich, noch immer knipste ich im Badezimmer das Licht nicht an, um mich nicht im Spiegel sehen zu müssen. Ich deutete meinem Arzt meine psychischen Schwierigkeiten an. Er erklärte mir, diese könnten nicht mit meiner Hormonstörung zusammenhängen.

Inzwischen hatte ich die Schule abgeschlossen. Ich versuchte, mein Leben möglichst „normal“ zu leben, meine psychischen Schwierigkeiten einfach wegzustecken. Anfang 20 hatte ich meinen ersten Freund. Ich begann zu studieren. Ich bemühte mich, meinen Mangel an Selbstwertgefühl durch gute Leistungen an der Uni auszugleichen. Nach außen muss alles „ganz normal“ gewirkt haben. Aber meine Schwierigkeiten, mit meinem Körper zu leben, wurden immer schlimmer. Ich fand mich weiterhin hässlich, unweiblich. Oft brauchte ich Stunden, um mich so weit zu bringen, mein Zimmer verlassen zu können. Ich ging keine engen Beziehungen ein, galt wohl als irgendwie unnahbar. Ich rutschte immer tiefer in eine schwere Depression.
Schließlich hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Nichts ging mehr. Ich schaffte es nicht mehr, mich „zusammenzureißen“ und zu funktionieren. Ich kam in ein psychiatrisches Krankenhaus, wo ich sechs Monate auf der Station für Psychosomatik verbrachte. Es war eine schwere Zeit, aber sie half mir, wieder Halt zu finden im Leben.
Nach sechs Monaten konnte ich entlassen werden und setzte mein Studium fort. Ich lebte nun seit einigen Jahren in einer festen Partnerschaft mit einem Mitstudenten. Nach dem Studium heirateten wir, verbrachten einige Jahre im Ausland und sind heute beide in Berufen tätig, die uns Spaß machen und ausfüllen.
So war eigentlich alles „o.k.“ in meinem Leben. Trotzdem blieb das sehr gebrochene Verhältnis zu meinem Körper, zu meinem Frausein. Immer wieder Zeiten der Depression. Ich lebte oft mit dem Gefühl, mein Ich sei von meinem Körper irgendwie abgeschnitten. Daran litt ich sehr. Ich machte viel Sport, besuchte Kurse in autogenem Training, um sozusagen den Zugang zu mir selbst zu finden, mich mit meinem Körper auszusöhnen. Alle meine Versuche, über Ärzte oder Genetiker irgendwie Kontakt zu anderen betroffenen Frauen zu finden, schlugen fehl. Ich war zunehmend der Überzeugung, dass es einfach niemanden sonst gab, der Vergleichbares erlebte.

Vor zwei Jahren beschloss ich, wieder mit Psychotherapie zu beginnen, um einfach mit mir selbst besser ins Reine zu kommen. Im Lauf dieser Therapie wurde mir dann klar, wie wenig ich eigentlich über diese ominöse „Hormonstörung“ und damit über ein sehr zentrales Thema meines Lebens wusste.
Ich schrieb das Krankenhaus an, wo ich vor 17 Jahren behandelt worden war, und bat um meine Behandlungsunterlagen. Nach einigen Schwierigkeiten wurden Kopien dieser Unterlagen an meinen Gynäkologen geschickt, der sie mir dann aushändigte und mit nach Hause gab. Dort las ich dann zum ersten Mal von meinen XY-Chromosomen. Ich hatte so wenig Ahnung, dass ich erst mal im Lexikon nachschlagen musste, um festzustellen, dass dies ein männlicher Chromosomensatz ist. Im Operationsbericht war von „Hoden und Nebenhodengewebe“ die Rede. Dies waren also die „rudimentären Gonaden“, die damals wegen Krebsgefahr entfernt worden waren. Ich war immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich um unterentwickelte Eierstöcke gehandelt hatte.
Zunächst war ich wie im Schock. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Natur bei mir einen Witz erlaubt habe. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte mit diesem neuen Wissen über mich. Mir schien, dass mein ganzes Leben als Frau irgendwie ein „Bluff“ war.

Schließlich sprach ich mit meinem Mann darüber. Er war erstaunt, versicherte mir aber, dass das Wissen um diese Chromosomen für ihn nichts an meiner Person ändere. Ich weinte viel in dieser Zeit.
Nachdem ich nun etwas genauer Bescheid wusste, begann ich, intensiver nach Kontakten zu anderen betroffenen Frauen zu suchen. Ich schrieb verschiedene Gynäkologen an, besuchte die Sprechstunde eines humangenetischen Instituts. Überall die gleiche Antwort: „Wir haben leider keine Informationen über andere Betroffene.“ Schließlich besorgte ich mir Internet-Anschluss und begann, selbst zu suchen. Nach vielen Umwegen stieß ich dann auf die Kontaktadresse der AIS-Gruppe. Die Begriffe AIS und Intersexualität hatte ich noch nie gehört, aber beim Stichwort „XY-Frauen“ wusste ich, dass dies auf mich passte.
Mit dem Kontakt zu anderen betroffenen Frauen hat sich für mich viel geändert. Es war und ist unglaublich befreiend, mich mit anderen auszutauschen, die ganz Ähnliches erlebt haben. Zwar bin ich inzwischen ziemlich sicher, dass es sich bei mir nicht um AIS handelt – meine Geschichte unterscheidet sich doch in wesentlichen Punkten von denen der meisten AIS-Frauen – und bin weiter auf der Suche. Aber das Gefühl des totalen Alleinseins inmitten anderer Menschen ist aufgebrochen worden.

Was dieses „Alleinsein mitten unter anderen“ für mich bedeutet hat, ist mir noch einmal sehr schmerzlich klar geworden, nachdem ich letzten Oktober zum erstenmal an einem Treffen der AIS-Kontaktgruppe teilgenommen hatte. Nach einigem Zögern beschloss ich, mit meinen Eltern und Geschwistern über meine Intersexualität zu reden. Dabei stellte sich heraus, dass sie alle Bescheid gewusst hatten. Meine Eltern waren von den Ärzten über den XY-Chromosomensatz unterrichtet wurden (nicht jedoch über die Existenz von Hoden) und hatten auch meinen Geschwistern davon erzählt. Meine Schwester hatte sich sogar intensiv mit dem Thema Intersexualität befasst und vieles darüber gelesen… Nur ich selbst wusste nichts.
Es war für uns alle ein Schock, vor allem, weil wir eigentlich einen sehr offenen Umgang miteinander haben und über vieles reden. Meine Familie war immer davon ausgegangen, dass ich selbst ebenfalls Bescheid wisse, aber nicht darüber reden wolle. In mir löste diese Erfahrung das Gefühl aus, innerhalb meiner Familie wie in einer Seifenblase gelebt zu haben.
So sind diese letzten Jahre eine schwierige Zeit für mich gewesen, die mich aber mir selbst ein ganzes Stück näher gebracht hat. Immer wieder habe ich von „Experten“ gehört, es sei eigentlich für die „Patienten“ besser, nichts über ihre Intersexualität zu wissen, da dies psychisch zu schwer zu verkraften wäre. Für mich kann ich nur sagen, dass ich trotz allen Schmerzes dieses Wissen um mich selbst auf keinen Fall missen möchte.

Ein Gedicht von Stephan Krebs hat mich in dieser Zeit irgendwie immer wieder begleitet. Es drückt vieles aus, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, und so möchte ich es hier an den Schluss stellen:

Häutungen

Nach und nach
die alten Häute abstreifen
und mir selbst näherkommen

die Masken fallen lassen
die Fassaden einreißen

keinen Schein mehr wahren
keine Rollen mehr spielen

bis ich mich gefunden habe
bis ich bin, wer ich bin

Was bleibt, mag kümmerlich wirken
doch es ist massiv – und echt

Nach und nach.

Luise