Geschichten

Anna

Anna

Stand Oktober 2001

Solange ich denken kann, hatte ich tief in mir ein Gefühl von Anderssein – unerklärlich, unbestimmt, unaussprechlich. Aber es war da. Ich wuchs in einem katholischen Elternhaus in einfachen Verhältnissen auf, war ein eher introvertiertes, verschlossenes Kind. Ich ahnte mehr als ich wußte, daß meine Andersartigkeit mit Sex und Geschlecht zu tun hatte, und dieses Thema war in meiner Familie ein absolutes Tabu – von Aufklärung keine Spur. Eine meiner eindrücklichsten Erinnerungen in Zusammenhang mit meinem Gefühl des Andersseins war eine Klassenreise mit ca. 12 Jahren. In der Jugendherberge gab es im Mehrbettzimmer abends die berühmt-berüchtigten verbotenen „Fummelspielchen“ unter Vorpubertierenden. Dabei stellten meine Mitspielerinnen und ich im Schutz der Dunkelheit erstaunt fest, daß meine Anatomie etwas unüblich war (Clitorishypertrophie). Die faszinierten und voyeuristischen Fragen („Was hast du denn da?“) blockte ich sofort geschockt ab, aber ich konnte Hänseleien wie „Du bist ja ein Zwitter/Mannweib“ nicht verhindern. Das waren so ungefähr die fürchterlichsten Schimpfworte, die ich mir vorstellen konnte. Sie trafen mich bis ins Mark.

Das Ergebnis war, daß ich mich völlig zurückzog und den Leidensweg des Forschens auf eigene Faust einschlug. Allein in der öffentlichen Bücherei mit Lexika, Enzyklopädien und medizinischen Standardwerken … sorgfältig vermeidend, daß irgend jemand mir über die Schulter blickte, versuchte ich verzweifelt, die Wahrheit über mich herauszufinden. Ich war bald im Bilde, daß da mit meiner intimsten Anatomie etwas nicht stimmte, aber was BEDEUTETE das? Es war sehr hart, weil ich so allein war mit meinen Büchern und den vielen Fragen – und niemand, der mir helfen konnte. Obwohl ich keineswegs auf den Kopf gefallen war, blieb das Tabu in mir so übermächtig, daß ich mich nicht traute, irgend jemanden zu fragen.

Damals begann mein Leben auf zwei Ebenen: Nach außen hin war ich brav, angepaßt, unauffällig, fleißig – aber innerlich entstand etwas, das wie ein Schlinggewächs meine Seele, meine Gefühle, meine Gedanken, mein Selbstwertgefühl und meine Identität überwucherte. Zu Beginn der Pubertät kam es zu einer schleichenden Virilisierung – Körperbehaarung, starke Akne, Kopfhaarverlust, Stimmbruch, fehlendes Brustwachstum – und die Periode, Initiationsritus aller Mädchen auf dem Weg zur Frau, blieb aus. Alles das trieb mich immer tiefer in die Isolation und Verzweiflung. Ich blieb nach außen hin gelassen und gleichmütig, aber innerlich war ich zerfressen und zerrissen von etwas Unheimlichen, Unfaßbaren, Unbenennbaren, worüber ich nicht reden konnte und worüber ich kaum nachzudenken wagte. Ich verdrängte alles, schob es in die hinterste Schublade meines Gedächtnisses und verbarrikadierte es dort hinter Schnodderigkeit und Gleichgültigkeit. Mit erwachender Sexualität wurden die Probleme jedoch bedrängender, die Hoffnungslosigkeit unausweichlicher, die Verzweiflung existenzbedrohender.

Schließlich – mit 16 – konnte meine Mutter meine Probleme nicht länger ignorieren, die sie bis dahin unter der Rubrik „Spätentwickler“ abgelegt hatte, und brachte mich zur Frauenärztin. Die untersuchte mich, stellte viele seltsame Fragen, die meine bis dahin unbezweifelte weibliche Identität problematisierten, was mich zutiefst verunsicherte. Ein erklärendes Wort gab es nicht, nur eine Überweisung in die Uniklinik. Dort mußte ich drei Monate lang intimste Untersuchungen über mich ergehen lassen, wurde fotografiert, auf dem Gynäkologenstuhl von Studentenscharen begutachtet, in Hörsälen herumgereicht, auf den Kopf gestellt – alles ohne hinreichende Erklärung oder gar psychologische Unterstützung. Da ich im Verdrängen gut geübt war, gelang es mir, diese Zeit zu überleben – indem ich sozusagen neben mir her lebte. Nebenbei las ich soviel über sexuelle Abnormitäten wie möglich, und das Schlinggewächs in meinem Kopf wucherte gnadenlos, gefüttert von meinen wilden Phantasien. Die Fragen „Warum ich?“ , „Was ist los mit mir?“, „Was wird aus mir, meinem Leben?“ wagte ich kaum zu stellen.

Wenn sie übermächtig wurden, sah ich den einzigen Ausweg darin, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich stand schon auf der Autobahnbrücke, spürte förmlich die Freiheit, alles hinter mir zu lassen, endlich Ruhe zu finden – aber ich sprang nicht. Zu feige, vielleicht auch zu viel Lebenswille, ein Funken Hoffnung – ich weiß es nicht. Als ich nach einer mysteriösen Operation (Gonadektomie) ohne eine befriedigende Erklärung (von XY-Chromosomen oder Hoden war nie die Rede) aus der Klinik entlassen wurde, teilte man mir so einfühlsam wie eben möglich das Notwendigste mit: primäre Sterilität, O.K. – das wußte ich schon. Aber daß ich auch nicht mit einem Mann schlafen könnte wegen meiner unentwickelten Vagina – vielleicht später, nach Hormonbehandlung und plastischer Operation – das war doch ein Schock. Und das mit süßen 17!

Ich war zutiefst deprimiert, am Boden zerstört, waidwund getroffen – eine Mißgeburt, ein Monster, ein Zombie, ein Alien – ein Zwitter! Und niemand, mit dem ich darüber reden konnte. Auch in der Familie nur Schweigen. Offensichtlich war mein Defekt ein unaussprechliches Mysterium, ich das einzige Wesen, dem etwas so Entsetzliches widerfuhr. Es war die Hölle! Nach außen hin war ich immer noch brav, angepaßt, nett. Aber das Schlinggewächs zog seine Schlingen weiter zu – strangulierte mich, nahm mir die Luft zum Atmen. Kleine Erlebnisse hatten fatale Wirkung. Einmal tanzte ich auf einer Feier mit einem netten Jungen, ein wenig verliebt. Er flüsterte mir zärtlich ins Ohr: „Darf ich ein bißchen frech werden?“. Das fand ich süß, und ich ließ mich von ihm küssen. Mein erster „richtiger“ Zungenkuß – seltsame Gefühle wirbelten in meinem Kopf, Schmetterlinge im Bauch – aber auch die Schlinge um den Hals: Es geht nicht! Nicht mit dir! Du bist ein Monster! Vergiß es! – Ich flüchtete von der Party, vergrub mich in mein Bett und heulte, heulte, heulte nächtelang. Es gab viele solcher Momente, die sich bis heute unauslöschlich in meine Seele gebrannt haben.

Das gab so tiefe Wunden
wie nie ein Dolch sie sticht,
man kann sie vergessen, verträumen,
heilen kann man sie nicht!
N. O. Body „Aus eines Mannes Mädchenjahren“

Die Zeit verrann – mit Schweigen. Schließlich volljährig zog ich in eine andere Stadt, brach alle Brücken hinter mir ab, hatte Erfolg im Beruf, lebte mein einsames und sehnsüchtiges Leben – immer sorgfältig darauf bedacht, niemanden zu nahe an mich heranzulassen. Ich fand mich langsam damit ab, mein Leben lang allein zu bleiben, machte meine Hormonersatztherapie, konnte mich aber nicht überwinden, für die immer noch anstehende Operation ins Krankenhaus zu gehen. Ich hatte eine regelrechte Krankenhausphobie. Einen Namen hatte ich noch nicht für meinen Zustand, aber tief in mir wußte ich, daß eine Operation meine Identitätsprobleme nicht lösen würde.

Mit 22 suchte ich mir eine neue Arbeitsstelle. In dem Exportbüro, in dem ich landete, saß mir gegenüber eine 26-jährige Frau, die gleichzeitig mit mir angefangen hatte. Wir verstanden uns auf Anhieb gut und freundeten uns an. Da ich mein französisch verbessern wollte, was sie perfekt beherrschte, schlug sie vor, sie könnte mir ja Unterricht geben. So trafen wir uns in der Freizeit häufig bei ihr oder bei mir, ich lernte eifrig französisch, und wir kamen uns langsam näher. Eines Tages lagen wir plaudernd auf meinem Diwan, und aus der Situation heraus und ohne jede Vorwarnung umarmte sie mich plötzlich und küßte mich leidenschaftlich. Ich war völlig perplex, entsetzt, außer mir, aber zugleich von Gefühlen überwältigt, die ich noch nie erlebt hatte. Es war einfach unwirklich, beängstigend, faszinierend und erregend zugleich. Die nächsten Tage verlebte ich in einem Rausch an Gefühlen, immer in der Angst, daß ich nur träumte. Sie übernachtete bei mir – außer Küssen und harmlosem Streicheln passierte nichts, weil ich zu viel Angst hatte. Die Schlinge um meinen Hals zog sich wieder zu. Aber nicht lange, ich nahm allen Mut zusammen und offenbarte mich – und es gab für sie überhaupt kein Problem („Glaubst du wirklich, ich hätte nichts bemerkt?). Plötzlich war die Schlinge verschwunden – auch für mich gab es überwältigende Gefühle, Liebe, Glück, Sex und alles, was ich mir nur wünschen konnte. Ein schlechts Gewissen hatte ich natürlich dabei, weil sie eine Frau war – so etwas war in meiner katholischen Erziehung einfach nicht vorgesehen! Trotzdem war es ein absolut wahnsinniges feeling! Wir zogen zusammen, das Glück dauerte an, es gab Streit und Versöhnung wie üblich – es war einfach wundervoll!

Wir beschlossen ein Studium aufzunehmen, da wir nicht ein Leben lang die Tage im Büro verbringen wollten. Wir zogen in eine andere Stadt, um dort zu studieren. Bei dieser Gelegenheit gab mir mein Doktor nach langem Zögern meinen Arztbericht mit, weil ich dort noch keinen Arzt hatte. Natürlich verschlossen und versiegelt, damit ich ja nur keinen Einblick hätte! Nun – ich saß noch nicht ganz im Auto, da hatte ich den Umschlag schon geöffnet und las die sechs Seiten mit zunehmender Erregung. Dann der letzte Satz, der wichtigste Satz in meinem Leben: „Um psychische Komplikationen zu vermeiden, haben wir es für richtig gehalten, die Patientin nicht über ihre wahre Geschlechtszugehörigkeit und ihre Kastration zu unterrichten.“

Wow! Ich fiel buchstäblich aus allen Woken – das verworrene Puzzle meines Lebens bekam auf einmal einen Sinn, alles paßte zusammen, mir ging endlich ein Licht auf: Ich war – nein, keine vollständige Frau, aber natürlich auch kein richtiger Mann, schon gar kein Zwitter, sondern irgendetwas zwischen den Geschlechtern: I N T E R S E X ! Hätte mich diese Erkenntnis in einer anderen Lebenssituation erwischt – es wäre vermutlich das Ende gewesen. So aber, glücklich verliebt, war mein schlechtes Gewissen wie fortgewischt: Wenn die Natur nicht einmal wußte, was ich sein sollte, hatte ich doch alles Recht auf der Welt, zu lieben wen ich wollte: Frau oder Mann. Zum Glück sah meine Freundin das genauso. Ich hörte mit meiner verhaßten Hormonersatztherapie auf, verzichtete künftig auf alle Gynäkologenbesuche, genoß die Zeit des Studiums trotz knapper Kasse und viel Arbeit und war restlos glücklich – das Schlinggewächs war einfach weg! Aus verschiedenen Gründen zerbrach die Beziehung nach fünf Jahren.

In der Zwischenzeit hatte ein Freund sich sehr intensiv und hartnäckig um mich bemüht. Da er verheiratet war und zwei Kinder hatte, ließ ich es auf einen heiftigen Flirt ankommen, in der Meinung, daß es mehr sowieso nicht werden könnte. Aber die Bestätigung als Frau tat mir gut und baute mein Selbstwertgefühl auf. Es war zwar nicht dieses feeling, das war mir klar, aber ich habe es bewußt ignoriert und mich schließlich nach langem Zögern und mit sehr viel Angst auf ein Verhältnis mit ihm eingelassen. Er reagierte auf den Brief, mit dem ich ihn über meine Besonderheiten teilweise aufklärte, als wäre das für ihn kein Problem, und wir fanden tatsächlich Wege, unsere Sexualität trotz meines Handicaps einigermaßen befriedigend auszuleben. Wir zogen um, er bekam nach der Scheidung die Kinder zugesprochen, und ich versuchte mich als Ersatzmutter – mit einigem Erfolg. Aufgrund von Suchtproblemen ging die Beziehung nach sieben Jahren zu Ende, und die Schlingen zogen sich wieder zu, weil ich mich für dieses Scheitern verantwortlich machte: Es liegt an Dir, Du bist nicht normal, Du kannst ihm nicht das geben, war er braucht!

Nach einigen Jahren des Alleinlebens, in denen mich die Frage nach meiner „wahren Identität“ stark beschäftigte, freundete ich mich mit einer Frau an, die ich durch mein Hobby Jagd kenenengelernt hatte. Ich wollte eigentlich keine sexuelle Beziehung mehr, aber sie wünschte es sich, und so gab ich nach. Ich hatte die Hoffnung, daß ich das feeling zwingen könnte, zrückzukehren. Manchmal glaubte ich, es zu schaffen, aber im Grunde wußte ich, daß ich mich nur selbst belog: Ich mochte sie sehr gerne, aber ich liebte sie nicht in dieser Weise. Schließlich beendeten wir auf meinen Wunsch die sexuelle Beziehung. Trotzdem blieben wir zusammen, kauften ein Haus, wo jeder eine Wohnung hatte und wir unser Hobby gemeinsam pflegen konnten. In den folgenden fast zwanzig Jahren lebten wir ziemlich harmonisch und zufrieden, arbeiteten viel und konnten unsere Träume weitgehend verwirklichen. Zwar blieb das Schlinggewächs immer lebendig, die Frage meiner „wahren Identität“ immer ungeklärt, aber ich konnte es verdrängen.

Vor eineinhalb Jahren passierten dann zwei Dinge, die mein Leben veränderten, mich wieder lebendig und glücklich wie lange nicht mehr fühlen ließen: Zum einen verliebte ich mich noch einmal unerwartet heftig. Zum anderen fand ich nach mühsamer Recherche heraus, daß es eine Selbsthilfegruppe für XY-Frauen gibt. Ich fuhr zu meinem ersten Treffen, voller Angst, und es war wie eine Befreiung aus einem finsteren Kerker, nach so vielen Jahren erstmals mit Menschen reden zu können, die alles verstanden, alles selbst durchlitten hatten – ich hatte etwas gefunden, wonach ich mein Leben lang gesucht habe: Menschen, die zu mir gehören – mehr als meine Familie, in gewisser Weise sogar mehr als ein Lebenspartner. Menschen, mit denen man gemeinsam weinen und auch lachen kann, die genauso verzweifelt und hoffnungsvoll, genauso verletzt und kämpferisch, genauso traurig und froh, genauso kleinmütig und stark, genauso ernsthaft und albern, genauso unnormal und normal sind wie ich! Ich gewann dadurch den Mut, mich meinem Problem und meinen Gefühlen erstmals wirklich face to face zu stellen, ja sogar erstmals mit Familie, Freunden und Fremden darüber zu sprechen. Ich habe endlich den Mut gefunden, dem Schlinggewächs ernsthaft den Kampf anzusagen. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, es mit Stumpf und Stiel auszurotten, aber ich bin zuversichtlich: Es wird mich nicht mehr strangulieren!

Anna