Wie alles begann
Wie alles begann…
Die Entstehungsgeschichte der Selbsthilfegruppe XY-Frauen, Stand April 2003
Gründungsmitglied Erika, eine 34-jährige PAIS-Betroffene aus Bayern, erzählt:
Im Frühjahr 1995 gelangten per Zufall ärztliche Unterlagen in meine Hände, die mir meine wahre körperliche Konstitution offen legten. So hart die darauf folgende Zeit auch war, sie führte zu vielen Kontakten mit Menschen, deren körperliche Konstitution ebenfalls intersexuell ist und die täglich daran arbeiten, als Intersexuelle in unserer Gesellschaft zu leben. Dazu kam die Erkenntnis, dass auch bei Menschen mit intersexueller Konstitution die Lebenswelten und die damit verbundenen Denkweisen sehr unterschiedlich sind. Eine große Leistung unserer Gruppe ist es unter anderem, diesen unterschiedlichen Denkweisen Respekt und Achtung entgegen zu bringen. Gleichzeitig aber ist die Gruppe offen für gedankliche Veränderungen und Erweiterungen. Ein guter Umgang mit Intersexualität bedeutet für mich heute, jede und jeden in seiner Person zu respektieren und selbst offen zu bleiben … fern von starren Denkstrukturen.
Im Herbst 1996 traf sich zum ersten Mal eine kleine Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen intersexuellen Konstitutionen zu einem Austausch in München. Für mich war das eine schöne und intensive, aber auch sehr anstrengende Erfahrung. Der rege Austausch und die Erfahrung, dass andere Menschen eine ähnliche Situation zu bewältigen haben, brachen meine Isolation und meine Einsamkeit auf. Sie führten aber auch dazu, dass jahrelang unterdrückter Schmerz und leidvolle Erfahrungen in meinem Leben sich mit unvermuteter Heftigkeit erneut ins Bewusstsein drängten. Es begann ein Prozess, der zu diesem Zeitpunkt mit dem Erkennen begann, und in dessen Verlauf ich meine Situation Stück für Stück immer besser akzeptieren lernte. Auch wenn er oft mit schmerzhaften Erkenntnissen und Erfahrungen verbunden ist, dauert dieser Prozess auch heute noch an und geht einher mit vielen lebendigen Kontakten mit anderen Betroffenen, die mich umso weiter bringen, je intensiver sie sind.
Ein Jahr nach dieser ersten Kontaktaufnahme mit anderen Betroffenen, im Frühjahr 1997, organisierte ein Mitglied der „Münchner Gruppe“ ein Treffen in Würzburg. Hier lernte ich mit den Schwestern Helen und Katrin sowie Elisabeth aus Hamburg drei weitere „XY-Frauen“ kennen, und es bestand schnell Einigkeit darüber, dass wir uns wiedersehen würden. Damit war der Grundstein für die heutige Selbsthilfegruppe gelegt, auch wenn sie damals noch nicht ihren jetzigen Namen trug.
Das nächste, von Elisabeth in Hamburg ausgerichtete Treffen im Herbst 1998 machte uns die Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit von Intersexualität und der damit verbundenen Lebenswelten bewusst. Wir wurden uns darüber klar, dass der einfühlende und respektvolle Umgang die Voraussetzung sein muss, um Raum für jeden in der Gruppe zu schaffen. Erst dann, so erlebten wir im Verlauf unseres Austauschs, können Barrieren fallen und kann Nähe entstehen. Und aus dieser Nähe heraus entwickeln sich im kreativen und konstruktiven Miteinander neue Perspektiven für angemessenen Umgang mit Intersexualität. Diese Grundsätze bestimmen bis heute die Arbeit der Gruppe, die für neue Mitglieder immer offen ist und die auch den Weg an die Öffentlichkeit nicht scheut.
Ein erster Schritt in punkto Öffentlichkeitsarbeit war die Entscheidung für einen eigenen Flyer. Eine Arbeitsgruppe, der nun auch Mareike aus Bremen angehörte, beschäftigte sich zwei Tage lang intensiv mit den Inhalten und der Formulierung dieses Informationsblatts, das heute bei vielen Krankenkassen und in den Praxen vertrauenswürdiger ÄrztInnen ausliegt. Heiße Köpfe verursachte die Namensfindung. Auch wenn die Bezeichnung „XY-Frauen“ auf den ersten Blick eine bestimmte Erscheinungsform von Intersexualität in den Vordergrund rückt, schließt unsere Gruppe niemanden aus. Jeder intersexuelle Mensch, der Kontakt sucht, ist bei uns herzlich willkommen. Mal finden diese Menschen in unserer Gruppe einen festen Platz, mal können wir sie an andere Kontakt- und Selbsthilfegruppen weitervermitteln.
Seit 1998 verging kein Jahr ohne eine Zusammenkunft. Die Treffen im Mai 1999 und Oktober 2000 in Hamburg sowie im April 2000 in Wuppertal zeigten uns, wie schwer intersexuelle Menschen zu erreichen sind. Die Größe der Gruppe stagnierte bei 10 bis 12 Teilnehmerinnen. Trotz dieser Stagnation wurde Interesse von außen bekundet, und Eltern intersexueller Kinder besuchten die Gruppe. Wir sammelten erste Erfahrungen im Austausch mit Journalisten und Fachkräften aus dem medizinischen Sektor. Zudem vergrößerten sich unsere Erfahrungen im Umgang mit uns selbst und der Dynamik in der Gruppe, die nicht immer frei von schmerzhaften emotionalen Erfahrungen für jeden von uns war. Die Gruppe entwickelte eine eigene Struktur, und es wurden erste Standards für die Organisation unserer Treffen festgelegt.
Ihre eigene Website hat die Gruppe seit April 2001: Gaby aus Berlin hat als Webmasterin der „XY-Frauen“ eine Internetpräsenz geschaffen, die vielen neuen Mitgliedern den Weg in die Gruppe geebnet hat. Bei den Treffen im November 2001 in Kiel und im April 2002 in Wuppertal stieg die Mitgliederzahl aufgrund dieser Internetpräsenz sprunghaft an. Auch fanden mehr und mehr Elternpaare, die intersexuelle Kinder haben, den Weg zu uns, was zur Gründung einer eigenen Elterngruppe führte. Seit 2003 tagen wir regelmäßig einmal jährlich zusammen mit der Elterngruppe im Frühjahr, und die mittlerweile über 40 erwachsenen Betroffenen treffen sich ein zweites Mal im Herbst. Unsere Arbeit wird von der DAK Hamburg finanziell unterstützt, als nächstes steht die Anerkennung als eingetragener Verein an.
Organisation und Strukturierung unserer Zusammenkünfte beanspruchen nun mehr Zeit als anfangs. Wir laden Gäste ein, die bei uns Vorträge halten, Filme zeigen, mit der Gruppe diskutieren und zusammen arbeiten. Dies sind Menschen, die sich in wissenschaftlichen, sozialen und politischen Projekten mit Intersexualität beschäftigen, es sind Vertreter medizinischer Berufe, Abgesandte anderer Gruppierungen, BuchautorInnen oder Medienvertreter, die eine positive Öffentlichkeitsarbeit im Sinne unserer Gruppe betreiben. Aber es ist unser erklärter Wunsch, auch bei zukünftigen Treffen dem Persönlichen genügend Raum und Zeit zu geben. Denn nach wie vor hat das Gefühl der Geborgenheit und Akzeptanz bei uns „XY-Frauen“ oberste Priorität