Geschichten

Lisa

Lisa

Stand Mai 2010

Was in den ersten 5 ½ Jahren mit mir geschehen ist, war und ist zum Teil auch heute noch ein Geheimnis. Meine erste Erinnerung habe ich, als ich mit 5 ½ Jahren nach der Gonadektomie und der zweiten Geschlechtsangleichung im Aufwachraum lag und Schmerzen hatte. Angst stieg in mir auf und ich war völlig alleine – was hatte man mit mir gemacht. Verstört versuchte ich die Ursache des Schmerzes zu lokalisieren und ertastete meinen dick eingepackten Unterkörper.

Doch der Reihe nach: Wenige Tage nach meiner Geburt wurde ich zu den Spezialisten ins Universitätsklinikum überführt. Nach mehreren Tagen und unzähligen Tests und Untersuchungen durften meine Eltern mich endlich nach Hause holen.

Mit neun Monaten brachte mich meine Mutter erneut in die Uni, der Leistenbruch sollte operativ korrigiert werden. Während die linke Gonade in den Bauchraum zurückverlagert wurde, wurde die Gonade der rechten Seite entfernt und später als Ovotestis bezeichnet.

Bereits drei Monate später lag ich wieder auf dem Operationstisch. Diesmal wurde das uneindeutige Geschlecht der Norm „Mädchen“ angeglichen, wobei wegen der einsetzenden Schwellungen die Operation abgebrochen wurde. Die anfänglich bunt gemischten Diagnosen wurden wieder und wieder geändert. Irgendwann lautete meine Diagnose Hermaphroditismus verus, z.B. gemischte Gonadendysgenesie; heute würde man die Bezeichnung Ovotestikuläre DSD verwenden.

Ab nun stand jedes Jahr ein Besuch in der Uni an. Doch seit dem Tag der Gonadektomie hasste ich es in die Uni zu fahren und bereits Wochen davor, begann ich mich, mit Händen und Füßen zu wehren. Alles wehren half nichts und so fand ich mich jedes Jahr aufs Neue in der Uni wieder. Dieser Geruch, der mir bereits beim Betreten der Uni in die Nase zog und dann diese sterile Umgebung in der ambulanten Endokrinologie im hintersten Eck mit kaum Licht. Es folgten Untersuchungen, deren Bedeutung mir nicht mitgeteilt wurde; ich fand ziemlich schnell heraus, dass alles schnell vorüber geht, wenn ich mich meinem Schicksal fügte. Im Anschluss an diesen Horror ging es dann „zur Belohnung“ immer zur Verwandtschaft. Das wiederholte sich Jahr für Jahr und jedes Jahr wehrte ich mich mehr und zerbrach innerlich Stück für Stück.

Es wurde viel geredet bei den Ärzten – über mich – nie mit mir. Mit den Jahren wuchs in mir eine böse Ahnung empor. Ich hatte zu schweigen, über den Grund der Reise in die Uni und was dort geschah. Die Ärzte sagten mir, es wäre besser, wenn ich niemanden davon erzählen würde – meine Mitmenschen würden es sowieso nicht verstehen und es würde mir nur schaden.

Bis zu jenem Jahr – ich glaube ich war 7 oder 8 Jahre alt – waren die Besuche auch noch einigermaßen erträglich. Doch in diesem Jahr sollte es anders werden, nach dem üblichen Vermessen, Wiegen, Blut abnehmen, Bauchgedrücke mit anschließender Intimbeschau und kurzem Gemurmel mit meiner Mutter, wurde ich in den Keller des Gebäudes geführt. Dort sollte ich mich erneut entkleiden und auf einem Podest Platz nehmen. Die Räumlichkeiten sind mir heute noch so präsent, als ob es erst gestern gewesen wäre. Nachdem die Ganzkörperfotos von mir gemacht waren, war ich für dieses Jahr verstört entlassen. Ich stellte mir die Frage, ob meine Klassenkameradinnen auch solche Erfahrungen machten. Nein, die waren ja „Normal“.

Mit 10 Jahren stellte ich dem Arzt in der Uni meine erste und zugleich letzte Frage. Mittlerweile fühlte ich mich so alleine, dass ich mir nichts sehnlichster wünschte, Kontakt zu anderen Betroffenen aufzunehmen. Die Gespräche mit meiner Mutter, die äußerst quälend für mich waren, weil sie mich nicht verstand, waren ähnlich traumatisierend wie die Besuche in der Uni. Ich fragte also den Arzt nach der Möglichkeit, Kontakt mit anderen Betroffenen aufzunehmen. Die Antwort klingt mir heute noch in den Ohren: Das wäre so selten, ich bräuchte erst gar nicht nach anderen suchen, denn ich würde sowieso niemanden finden. Damals habe ich das geglaubt und die Antwort stürzte mich noch tiefer in die Einsamkeit. In mir reifte die Gewissheit, du bist ein Monster und bist irgendwie so schlimm, dass ich mit niemanden darüber reden durfte. Ich wurde mehr und mehr zum Einzelgänger und Freundschaften zu pflegen wurde immer schwieriger für mich.

Mit 11 Jahren erzählte der behandelnde Arzt von der Entfernung der Eierstöcke und der Gebärmutter und wie gut nun alles aussehen würde; mir lief es bei dieser Erzählung eiskalt den Rücken runter. Ich lag auf der Liege und höre den Arzt reden und verstand die Welt nicht mehr. In diesem Moment gingen mir meine Zukunftspläne durch den Kopf. Der Traum jedes kleinen Mädchens von Kindern ist in diesem Moment für mich schmerzlich zerplatzt. Als ich nach der Behandlung meiner Mutter die entscheidende Frage stellte, wusste ich die Antwort eigentlich schon längst. Durch den Versprecher des Arztes war meine Mutter gezwungen mir die „Wahrheit“ über mich zu sagen. Wahrheit in Anführungsstriche, weil diese Wahrheit eigentlich aus Nichts bestand. Spätestens nach der Aussage, dass ich nie eigene Kinder bekommen könnte, blockierte mein Verstand. Es vielen noch Begriffe wie XY-Chromosomen und eigentlich hätte ein Junge aus mir werden sollen; man würde mich als Hermaphrodit oder Zwitter bezeichnen. Meine Mutter versuchte mich zu trösten und wir liefen lange Zeit ziellos durch den Park der Uni umher. Immer wieder klangen mir die Worte meiner Mutter und des Arztes in den Ohren – ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Mit einem Schlag war meine Kindheit beendet und die folgende Isolation war nichts im Vergleich zu der bisherigen. Ich war unfähig Freundschaften zu halten oder zu pflegen; sobald eine Freundschaft zu intensiv wurde, brach ich sie ab. Man hätte ja hinter mein Geheimnis kommen können; bei Freundinnen zu übernachten, war für mich undenkbar. Ich erlaubte mir keinerlei Gefühle mehr und für meine Außenwelt und die Familie war ich weiterhin das kleine fröhliche Mädchen, das keine Probleme hat.

Also wusste ich über mich zu diesem Zeitpunkt: Ich werde nie eigene Kinder bekommen können, ich bin eigentlich ein Junge und man schimpfte mich Zwitter – das also war der Grund dafür, weshalb ich mit Niemanden darüber reden durfte.

Bei meinem nächsten Besuch in der Uni mit 12 Jahren wurden mir Hormone verschrieben. Mittlerweile hatte meine Mutter mit dem Arzt telefoniert und ihm erzählt, was er beim letzten Besuch angerichtet hatte. Diesmal wurde nicht über mich geredet, sondern ausnahmsweise mal mit mir. Er erklärte mir, dass ich diese Tabletten nehmen müsse, um meine Pubertät einzuleiten – schließlich sollte ich mich doch genau wie meine Freundinnen zu einer Frau entwickeln. Außerdem würde ich die Periode bekommen, wenn ich diese Tabletten nehmen würde. Also doch, da war doch noch ein Hoffnungsschimmer in meiner ausweglosen Situation. Der Arzt erklärte mir noch, dass ich noch einmal operiert werden müsste, um aus mir eine richtige Frau zu machen. Gleichzeitig beängstigt durch die erneute Operation und die Hoffnung auf die bevorstehende Periode war ich für dieses Jahr entlassen.

Ich dachte mir, ich bin also doch nicht so verkehrt, wenn ich meine Periode bekomme. Ich hatte wieder Hoffnung und nahm stolz täglich eine dieser Tabletten und wartete darauf, dass sich die Periode endlich einstellte. Im Biologieunterricht hatten wir den weiblichen Zyklus durchgenommen und ich wusste von meinen Klassenkameradinnen, dass sie einmal im Monat ihre Periode bekamen. Mein Körper veränderte sich langsam und ich wartete und wartete bis sich endlich etwas tat. Ich dachte mir, dann hätte endlich dieses Versteckspiel mit den vorsorglich mitgeführten Tampons und Binden ein Ende; theoretisch wusste ich alles über die Periode und verfolgte jedes Gespräch meiner Klassenkameradinnen aufmerksam. Die Wochen und Monate vergingen und bis auf die angekündigte Veränderung meines Körpers geschah nichts. Also beschloss ich kurz vor dem nächsten Besuch in der Uni diese Tabletten einfach nicht mehr zu nehmen. Wenn ich mit 11 Jahren noch dachte, eigentlich kann es nicht mehr schlimmer kommen, hatte ich die Rechnung ohne die Ärzte gemacht.

Wie immer um die Osterzeit – in den Ferien, damit auch schön niemand etwas von der heimlichen Reise mitbekam – stand der nächste Besuch in der Uni an. Mittlerweile 13 Jahre alt folgte nach den routinemäßigen Untersuchungen noch eine weitere Untersuchung. Wie die Jahre zuvor, wurde mir auch diesmal der Grund für diese Untersuchung nicht mitgeteilt, ich sollte doch Bitteschön dem Arzt einfach nur gehorchen. Ich bekam ein Kontrastmittel und Limonade zum Trinken und sollte mich bei der Krankenschwester melden, sobald ich auf Toilette müsste. Als es dann soweit war, befahl man mir, mich auszuziehen und ein Hemdchen anzulegen. Ich sollte auf dem Metalltisch Platz nehmen und warten bis der Arzt kommt. Der ließ auch nicht lange auf sich warten, brachte aber eine ganze Schar von Studenten/Jungärzten mit und verlangte von mir, dass ich während der Röntgenaufnahmen meine Blase entleeren sollte. Aus Scharm vor den Umstehenden und der liegenden Position gelang mir das aber nicht und der Arzt reagierte sehr ungehalten. Nach einer Standpauke des Arztes gelang mir die Entleerung der Blase mehr schlecht als recht und im gleichen Moment merkte ich einen stechenden Schmerz im Bauch. Einer der anwesenden Ärzte hatte mir eine ziemlich große Nadel mit einer Feinmotorik in den Bauch gerammt, das ich nur noch nach Luft rang. Nach dieser Prozedur lies man mich einfach in meinem Hemdchen vor der Medizinerschar liegen – ich kam mir so erniedrigt vor und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Als dann endlich die Röntgenaufnahmen kamen, schnauzte mich der Arzt an, ich hätte absichtlich die Untersuchung sabotiert und die Blase innegehalten als die Bilder gemacht wurden. Ich durfte mich wieder anziehen und war entlassen.

Ich war am Boden zerstört und rannte aus dem Behandlungszimmer, vorbei an meiner Mutter, weg. Es hat fast zwei Stunden gedauert, bis sie mich wieder gefunden hat. Wie ein Häufchen Elend saß ich auf einer Parkbank am Fluss und weinte mir die Augen aus. Ich hatte schon längst keine Tränen mehr und starte stumm vor mich hin. Ich wollte und ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte auf der Stelle sterben, was sollte das alles noch für einen Sinn haben. Meine Mutter wollte natürlich wissen, was eben passiert war, doch ich konnte es ihr nicht erzählen.

Der nächste Besuch in der Uni war mein vorläufig letzter Besuch und überbot an Erniedrigungen und Bosheiten alle bisherigen Besuche. Nach den üblichen Untersuchungen folgte dann ein Gespräch über die bevorstehende Vaginalplastik. Ich müsse diese Operation machen lassen, sonst könnte ich nie mit einem Mann schlafen. Ich wolle doch bestimmt auch eine erfüllte Partnerschaft haben. Wenn nicht jetzt dann später, dann könnte ich ja meinen Freund zur Operation mitbringen. Meine Panik und Scham vor dieser Operation war riesig und so weigerte ich mich standhaft. Nun wurde der Ton langsam aber sicher härter. Das Gespräch nahm dann folgende Wendung. Der Arzt erklärte mir sachlich dennoch bestimmt, dass diese Operation unumgänglich für mich wäre und ich mich sowieso auf ein Leben alleine einstellen müsse. Denn wahrscheinlich würde mich sowieso nie ein Partner haben wollen.

Nun hatte ich definitiv meinen Tiefpunkt erreicht, wenn ich auch nur im Geringsten diese Operation in Erwägung gezogen hatte, warum sollte ich mich den Schmerzen und Belastungen aussetzen, wenn mich sowieso nie ein Partner haben will. Wochenlange Gespräche mit meiner Mutter zu diesem Thema und Gefeilsche über ein Trostpflaster taten ihr übriges – ich zerbrach und verdrängte – 15 lange Jahre. Ich baute eine dicke Mauer des Schweigens um mich und meine Gefühle auf, wie es mir in dieser Zeit wirklich ging, wusste niemand. Zu sehr war ich in der Verdrängung und spielte für jedermann den fröhlichen unbeschwerten Teenager.

2004 fingen diese quälenden Gespräche von neuem an, meine Mutter und Schwester respektierte meinen Wunsch, darüber nicht reden zu wollen, nicht. Auslöser war die Familienplanung meiner Schwester, weil sie sich einer genetischen Beratung unterzog und meine Unterlagen benötigte. Sie sollte sie haben, aber mich damit in Ruhe lassen. Da kam mir das Angebot, beruflich in eine große Stadt zu ziehen, gerade recht – ich plante meine Flucht vor der Familie; dass es ein Start in ein neues, besseres Leben wird, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Heute bin ich meiner Schwester für ihre Hartnäckigkeit sehr dankbar; wäre sie nicht gewesen, würde ich vielleicht noch heute meine Geschichte verdrängen.

Kurze Zeit später überreichte mir meine Schwester einen Umschlag mit einem kleinen Teil meiner Krankenakte und der Adresse der XY-Frauen. Anfänglich wollte ich mich nicht mit meiner Geschichte beschäftigen, aber irgendwann war der Wunsch die überreichten Unterlagen anzusehen größer als die Angst. Die Ernüchterung war allerdings groß, als ich kein Wort verstand. Also besuchte ich die Site der XY-Frauen und saugte die dortigen Informationen auf. Für mich war zu diesem Zeitpunkt klar, das ich eigentlich keinen Kontakt wollte – zu groß war mein Trauma und die Angst – und deshalb nahm ich auch mit dem Webmaster Kontakt auf, als ich weitere Informationen suchte. Der Webmaster witterte hinter der anonymen Mailadresse mehr und entlockte mir mehr Informationen. So entstand ein erster zaghafter Kontakt der mein Leben grundlegend geändert hat.

Es folgte für mich erst einmal eine sehr schwere Zeit und die Thematik stürzte mich erneut in ein tiefes emotionales Loch. Ich wollte die Wahrheit wissen und war bereit mehr zu erfahren, doch diese Wahrheit schmerzte und ließ mich nicht mehr los. Doch dieser Schmerz hat mir geholfen zu verstehen und zu akzeptieren.

Ein gutes halbes Jahr später hatte ich in der großen Stadt mein erstes persönliches Treffen mit anderen Betroffenen. Es hat so gut getan, sich endlich persönlich mit anderen austauschen zu können und als ich nach Hause schwebte – so fühlte ich mich in diesem Moment – wusste ich, was ich all die Jahre vermisst hatte.

Heute könnte ich mir mein Leben ohne die XY-Frauen nicht mehr vorstellen – der Kontakt zu anderen Betroffenen und der Austausch untereinander ist immens wichtig. Einfach nicht mehr alleine zu sein und verstanden zu werden, ein wunderbares Gefühl der Verbundenheit zu einer ganz besonderen Familie. Diese lieben Menschen haben mir mit Rat und Tat immer zur Seite gestanden und geholfen, zu verstehen und mich selbst anzunehmen. Ich konnte endlich meine monströse Verfangenheit ordnen und die Mauer des Schweigens und Verdrängens wurde eingerissen und durch Wahrheit und Offenheit ersetzt. Endlich war ich bereit, auch meinen Freunden über mich zu erzählen – denn was ist eine Freundschaft wert, die auf einem Lügenkonstrukt aufgebaut ist. Es fiel mir wirklich nicht leicht, mit meinen Freunden darüber zu reden, aber ich habe dadurch erfahren, das meine Intersexualität nichts ist, wofür man sich schämen müsste – man ist und bleibt der gleiche Mensch. Letztendlich haben sich meine Freundschaften dadurch intensiviert und ich habe Vertrauen gegeben und bekommen.

Lisa